Kaum Fleisch in den Kriegswintern
Was mich an dem Film besonders interessierte, war der Alltag der Menschen, den dieser Krieg mehr und mehr zerstörte. Der taumeligen Kriegseuphorie von 1914 folgte rasch die Last der Entbehrungen. Schöneberg zum Beispiel war damals noch eine selbstständige Gemeinde. Sie führte bereits Mitte 1915 Lebensmittelkarten für Fleisch ein. Berlin folgte einige Monate später.
Rationierung von Grundnahrungsmitteln
Auch Brot, Kartoffeln und anderen Lebensmitteln wurden rationiert. So hatte jeder Berliner im zweiten Kriegswinter Anspruch auf wöchentlich 1900 Gramm Brot, 2500 Gramm Kartoffeln und 250 Gramm Fleisch. Auch 180 Gramm Zucker, 80 Gramm Butter und zwei Eier pro Monat durfte er beziehen. Das Backen von Weizenbrot wurde verboten, die Stammwürze des Kriegsbiers auf maximal vier Prozent reduziert.
Steckrüben als Ersatz
Im dritten Kriegswinter 1916/17 wurde die Versorgungslage immer bedenklicher. Ein selten nasser Herbst hatte die Kartoffeln auf den Feldern verfallen lassen. Die Bauern ernteten lediglich 50 Prozent dessen, was sie in normalen Jahren einführen. Als Ersatz für das wichtigste Grundnahrungsmittel wurde die Steckrübe verteilt. Allein die Stadt Berlin orderte für ihre Bevölkerung bei den Bauern im Umland der Hauptstadt eine Million Zentner.
Steckrüben in allen Variationen
In meinem Bücherregal entdeckte ich ein Kriegskochbuch. Es appelliert an „Hausfrauentatkraft“ und „Hausfrauenfindungsgabe“. Das Buch empfiehlt die Steckrübe in jeder nur denkbaren Art und Weise. Es gibt sie darin als Steckrübensuppe, Steckrübenbrot, Steckrübenkoteletts, Steckrübenmarmelade und Steckrübenpudding. „Familie verärgert“ hat irgendjemand auf die Titelseite der 30-seitigen Rezeptsammlung geschrieben. Dies ist kein Wunder angesichts der wahrscheinlich verzweifelten Versuche der Großmütter meiner Generation, ihre Familien mit solchen Surrogaten satt zu kriegen.
Mecklenburger Traditionsgericht
Geblieben sind aus dieser Zeit die Begriffe „Hindenburgknolle“ und „Kohlrübenwinter“. Es ist das Stigma von Hunger, Mangel und Entbehrung. Selbst Traditionsgerichte wie die Mecklenburger gestovten Wruken vermochten die Beliebtheit der Steckrübe nicht wesentlich zu steigern. Es handelt sich dabei um Kohlrübeneintopf mit Räucherrippchen oder Lübecker National. Die Knollen werden dafür mit Kartoffeln und Schweinekamm gekocht.
Nährstoffreiche Knolle
Die Steckrübe ist kalorienarm. Ihr ernährungsphysiologischer Wert liegt in ihrem hohen Gehalt an Traubenzucker. Auch wichtige Mineralstoffe und Vitamine sind enthalten. Inzwischen erlebt sie eine kulinarische Renaissance. Zu verdanken hat sie das vor allem einer Generation von Köchen, für die einzig und allein der Geschmack eines Lebensmittels über seine Verwendung entscheidet.
Feine Süße, herbe Würze
„Die Rüben, die Rüben, die haben mich vertrieben. Hätt‘ die Mutter Fleisch gekocht, dann wäre ich geblieben.” So ging ein Reim noch in meiner Kindheit. Und da kann die Steckrübe mit ihrer feinen Süße und herben Würze durchaus punkten. Um das zu belegen, habe ich mal in einigen neueren Kochbüchern geblättert.
Vielfältige Zubereitungsarten
Bei Kolja Kleeberg beispielsweise findet sich folgendes Gericht: Steckrübensuppe mit Räucheraal, Rauchgelee, Arganöl und Balsamkristallen von Erwin Gegenbauer. Und Tim Raue beschreibt die Zubereitung einer Hasenkeule. Diese wird in Rotwein-Orangen-Marinade gegart. Serviert wird sie mit Süßholzjus, Salat von Steckrübe, Trauben, Karamellhaselnüssen und Liebstöckel. Auch Quittengelee und Steckrübencreme sind mit dabei. Ich nenne sowas kulinarische Vergangenheitsbewältigung.